Neulich hatte ich ein Erlebnis auf der Straße. Ich bin nach Hause gelaufen, abends. Ich höre plötzlich, wie jemand laut in meine Richtung ruft: “Eyyyy, sag mal, was ist mit dir? Bist du eigentlich ein Mann oder eine Frau?” Die Tonlage war belustigt, leicht aggressiv. In diesem Moment habe ich innerhalb von Sekunden eine Entscheidung getroffen. Ich drehe mich um und sehe ein Bild für die Götter: Eine Gruppe von Dudes, acht an der Zahl. Solarium-gebräunt, massig, manche durch viele Gänge ins Fitnessstudio, manche vom Essen und weniger Gängen ins Fitnessstudio. Sie sitzen breitbeinig vor einem Späti am Kottbusser Damm. Sie gucken mich an. Ich gucke zurück, in mir ein Selbstbewusstsein, das ich selten auf diese Weise spüre. Ich gehe auf die Gruppe zu und frage mit klarer Stimme, wer das gerufen hat. Das Alphatier der Gruppe meldet sich, Ausstrahlung cocky: massiger Typ (nicht durchs Fitnessstudio), seine Cola aus der Dose an den Lippen. Er guckt mich an. Ich ihn. Ich gehe direkt auf ihn zu und frage ihn, wie es dazu käme, dass er einem Menschen so etwas hinterherruft. Warum er mich bloßstellen will, warum er riskiert, mich zu verletzen. Zuerst wehrt er ab und gibt zurück: “Ja, wenn du so rumläufst, dann willst du doch provozieren, dann darf man auch drauf reagieren.” Ich spreche ganz ruhig mit ihm, gucke ihm in die Augen und erwidere: “Ganz ehrlich, wenn das eine ernstgemeinte Frage von dir ist und es dich ernsthaft interessiert, ob ich ein Mann oder eine Frau bin, dann freue ich mich, das mit dir zu erörtern.” Ich sage: “Wie wichtig ist dir Respekt mit deinen Homies hier?” Er sagt: “Respekt ist das Wichtigste.” Ich drücke meine Verwunderung aus: “Wie kann es sein, dass du hier Respekt als hohes Gut siehst, aber keinen vor meiner Person hast?” Damit hatte ich ihn. Er wird ruhiger und stimmt mir zu, dass es in diesem Moment an Respekt gefehlt hat. “Stell dich nicht über mich, frag mich, was dich interessiert, dann habe ich die Möglichkeit, angemessen darauf zu reagieren, anstatt es mir hinterherzurufen, nur damit du für einen kurzen Moment cool vor deinen Jungs sein kannst, zur allgemeinen Belustigung oder damit du deinen Frust abladen kannst.” Ich sage ihm, dass ich Sophie bin und mich als weiblich identifiziere. Er heißt André. Ich frage André, ob ich mich setzen kann. Es wird mir Platz gemacht. Ich setze mich und sage: “Stell mir jetzt die Fragen, die dich sichtlich aufwühlen, mit der Erlaubnis, dass auch ich welche stellen darf.” Dann begann unser einstündiges Gespräch. Er öffnete sich immer mehr, erzählte irgendwann von seiner Tochter und seinen Ängsten, dass er es so wahrnimmt, dass sie nicht mehr als normales Mädchen aufwachsen kann, weil sie in der Schule, von Mitschüler*innen und durch das Fernsehen indoktriniert wird. Er möchte auf keinen Fall, dass seine Tochter eine Außenseiterin wird. Ich hörte ihm zu, konnte ihm Empathie für seine Ängste entgegenbringen. Ich sagte, dass ich verstehe, dass es nicht einfach ist, sich auf Neues, das man nicht kennt, einzulassen. Dass es aber keinen Weg daran vorbei gibt, als Gesellschaft und als Individuum damit klarzukommen. Weil es Fakt ist, dass es Menschen gibt, die nicht in die Kategorie Frau oder Mann passen. Dass er, da er sich mit dem Geschlecht, mit dem er geboren ist, identifiziert, keine wirkliche Ahnung haben kann, wie sich das anfühlen mag, wenn man bemerkt, dass man anders ist als die anderen. Wie schwierig es ist, in unserer Gesellschaft anders zu sein, schwul, lesbisch, trans, nicht-binär… und welchen Respekt es meines Erachtens verdient hat, dass Menschen diesen Weg trotz aller gesellschaftlichen Schwierigkeiten gehen, um ihr wahrhaftiges Selbst zu leben. Ich fragte ihn, ob er Menschen in seinem Umfeld hat, die nicht der gesellschaftlichen Norm folgen. Er verneint. Er sehe diese nur auf dem Transenstrich in St. Pauli oder im Fernsehen oder eben hier auf der Straße. Er lacht, diesmal weniger hämisch, eher freundlich. Ich erwidere es trotzdem nicht. Ich sagte ihm, dass ich eine ganze Menge Menschen um mich habe, die nicht der vorgeschriebenen Norm entsprechen. Wie sie diesen schweren Weg des Andersseins gegangen sind und welche wunderbaren, authentischen Wesen sie dadurch sind. Die so viel Hohn und Spott erleiden mussten, um ihr ganz eigenes, individuelles Leben heute führen zu können. Dass es mir persönlich darum geht, in diesem Leben ich selbst sein zu können. Und ob er dies nicht für seine Tochter möchte, wenn diese sich für ein Leben abseits der Norm entscheidet, dass dann ihr Weg bereits einfacher wäre, weil es in der Gesellschaft immer mehr Platz dafür gibt. Wir sprachen über die Biologie von uns Menschen. Er verteidigte seinen Standpunkt vehement, dass der Sinn unseres Daseins doch die Fortpflanzung ist. Ich versuchte, ihm meinen Standpunkt zu verdeutlichen. Dass es für mich generell darum geht, jedem einzelnen Menschen zu überlassen, wie sie ihr Leben leben wollen. Dass es immer Menschen geben wird, die sich fortpflanzen werden. Und dann gibt es diejenigen, die andere Rollen in dieser Gesellschaft haben. Und dass das Leben dazu da ist, herauszufinden, welche Rolle man innehat. Dass es wichtig ist, sich diese Fragen zu stellen: Will ich Kinder? Wie will ich leben? Wie will ich lieben? Lebe ich hier mein authentisches Selbst oder ein Leben, wie es mir gesellschaftlich und von den Eltern vorgelebt wurde? Sobald man sich persönlich mit diesen Punkten auseinandergesetzt hat, ist alles erlaubt, weil dann die Entscheidung dazu aus deinem Innersten rührt. Dann darfst du alles sein: Mutter, Vater, Hausfrau, Businesswoman, Hausmann, schwul, poly… whatever it is. Meines Erachtens ist die Reise zu dir selbst weltverändernd. Je mehr die Selbstliebe wächst, desto weniger wirst du das Außen abwerten können. Je weniger verurteilt man. Während unseres Gesprächs wurde mir immer klarer, dass es hier um mehr geht als mich und den persönlichen Angriff. Es ging darum, Farbe zu bekennen und klar hinter einem Teil unserer Gesellschaft zu stehen, der tagtäglich so viel Ablehnung erfährt. Es war dafür ein Zeichen zu setzen für die queere Community unter uns. Darum, ein wahrhaftiger Ally zu sein. Und dies laut auszusprechen, auch wenn es ungemütlich sein kann. Wir verabschiedeten uns. André meinte zum Abschied: “Im Grunde ist es ja auch scheißegal, ob du ein Mann oder eine Frau bist, du bist cool drauf.” Na immerhin, dachte ich. Soweit kann man in einer Stunde kommen. Dann wollten sie noch ein Gruppenselfie mit mir, um sich an dieses Happening zu erinnern. Leider war es nicht mein Handy, aber sie folgen mir auf Instagram. Ich habe gerade mal Kontakt aufgenommen und hoffe, ich bekomme es bald. Dann schicke ich es im Nachgang.
Eure Sophie